Aus EnzyklopAtys
“Erster Teil
Mit dem Abkommen von Karavia trat ein Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Völkern in Kraft; Handelsrouten legten den Grundstein für eine neue Zeit des Wohlstands und des gegenseitigen Verständnisses. Zwei Generationen lang erleuchtete unser Imperium in seinem ganzen Glanz und führte uns auf den Weg des Entdeckungsdrangs und Wissens. Selbst die Gelehrten der Zoraï kamen auf ihrer Suche nach Erleuchtung und Wissen in die großen Lernhallen unserer Hauptstadt Fyre.
Entlang der Matisgrenze, an der ehemals der Krieg wütete, begannen Fyros-Siedlungen zu florieren. Der entfernteste, aber sicher nicht unwichtigste dieser Außenposten war Colomo, der nach einem Aquädukt benannt war, das dort in den Fluss Munshina mündete. Colomo war ein belebtes Örtchen, das eine Handelsmesse besaß und ständig von reisenden Händlern und Handwerkern, ja sogar von ganzen Konvois besucht wurde. Sie erzählten sich Geschichten von knappem Entkommen vor wilden Biestern und anderen Gestalten.
Wie das Sprichwort sagt: Je mehr wir vom schönen Leben geblendet sind, desto weniger nehmen wir die lauernden Gefahren wahr. Und in der Tat mussten wir den Preis für die Jahre politischer Uneinigkeit über die Kontrolle des neutralen Grenzgebiets zwischen Matis und Fyros Landen zahlen. Die Region wurde immer gefährlicher; wilde Stämme überfielen die Reisenden und nahmen ihnen auch manchmal das Leben. Die Händler konnten nicht mehr frei umher reisen, denn der einzig sichere Weg war, mit den imperialen Konvois zu reisen, deren Aufgabe in der Eskorte von Reisegruppen bestand.
Es kam also etwas überraschend, als der Bürgermeister von Colomo eines Abends im Herbst über die Ankunft eines einzelnen Matis auf einem Mektoub informiert wurde. Dieser bat um Unterkunft, Nahrung und die Erlaubnis, mit den Dorfbewohnern zu reden. Der Bürgermeister wunderte sich zuerst, wie ein einzelner Reisender es durch die von den Stämmen besetzten Gegenden geschafft habe - doch dieses Verwunderung dauerte nur so lange, bis er ihn zu Gesicht bekam.
Der Matis stellte sich als Angeli di Fabrini vor und war sehr einfach gekleidet. Er trug das schlichte Gewand, das bei Predigerschülern üblich war. Er erzählte, dass er auf der Initiationsreise war, um seinen Glauben in Jenas Kirche unter Beweis zu stellen. Dem Bürgermeister ging sofort auf, warum er nicht überfallen worden war: Es gab nichts zu stehlen! Er hatte nichts, um die Aufmerksamkeit eines Stammes auf sich zu ziehen - er besaß nicht mal einen Dapper, um für seine Unterkunft aufzukommen. Der Bürgermeister ließ ihn in der Obhut von Abecus, dem fröhlichen Dorfmagier. Er konnte den Prediger über Nacht unterhalten, ehe er dann sicher zu dem nächsten Matis-Außenposten geleitet würde. So ging der Bürgermeister sicher, dass der Bursche die Bevölkerung nicht mit seinem Wort Jenas aufwühlen würde, denn der letzte Prediger der vorbei gezogen war, hatte nur Unruhen hinterlassen.
- “Es ist mir eine Ehre Herr und ich würde Ihre Gastfreundschaft gerne annehmen?aber meine Mission ist es, mit den Einwohnern zu reden.” sagte Angeli.
- “Komm schon, Bursche, lass uns zuerst zu mir gehen und übers Geschäft reden,” sagte Abecus und führte den Prediger zu seinem Haus, einem gelblichen und blauen Gebäude, das sich in einem wunderschönen Kontrast vom Ocker des Wüstensandes absetzte.
- “Julea, sag deiner Mutter sie soll ein Zimmer vorbereiten! Wir haben einen Gast.” rief Abecus seiner Tochter zu, als er das kühle Innere des Hauses betrat. Julea, ein eigensinniges 15-jähriges Mädchen, stand augenblicklich wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz, der hinunter zu den Wohnräumen führte. Es war das erste Mal, dass sie einen Matis aus Fleisch und Blut erblickte. Er sah groß und stolz aus, hatte schlanke Finger mit langen, gepflegten Fingernägeln. Er hatte eine Adlernase und trug sein feines, gepflegtes Haar nach hinten zusammengebunden, mit einer jungenhaften Locke über dem linken Auge, was ihm ein rebellisches Aussehen verlieh.
Angeli di Fabrini sprach unsere Sprache fließend, mit diesem gewissen singenden Akzent seiner Leute, der so nervös wirkte wie der Flug des Kinelischmetterlings in den Waldlanden. Er verbeugte sich etwas zu übertrieben vor ihr um sie zu begrüßen. Sie lächelte amüsiert, drehte sich um und lief die Treppe weiter hinunter, um ihrer Mutter die Nachricht zu überbringen.
Im Hauptraum, der mit schönen Tapeten dekoriert war, die Geschichten vergangener Zeiten erzählten, war es kühl und trocken - trotz der Feuchtigkeit, die draußen herrschte. Der leckere Duft einer Mecktoubrüssel-Suppe und eines gewürzten Kaktus stieg einem von der Küche aus in die Nase. Abecus setzte seinen jungen Gast an einen Tisch mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Die jüngste, Sylvia, die 12 Jahre alt war, und Julea. Sobald jeder zu essen hatte, räusperte der Matis sich und erhob seine Stimme zum Gebet:
- - "Gelobt sei Jena, für das Essen das du uns schenkst
Mit jedem Krümel unser Leben du zum Guten lenkst
Segne unsere Seele wenn wir arbeiten, ruhen und spielen
Bis wir uns unsern Platz zum jüngsten Gericht verdienen"Abecus fügte verschmitzt hinzu:
- "Dank dir Frau für diese Leckerbissen hier Zeigts doch deine Zuneigung mir Gesegnet sei deine Liebe in unserem Heim Sie berührt unsere Herzen, drum dieser Reim"
Zweiter Teil
Abecus Frau errötete ob der öffentlichen Liebeserklärung ihres Mannes, stoppte das Schauspiel zwischen den beiden Männern aber mit einer einfachen Geste. Der junge Matis begann mit augenscheinlichem Genuss die Suppe zu essen und nahm anschließend sein Kakteenherz. Mit seinen geschmeidigen Fingern brach er kleine Stücke aus dem Herzen, um sie dann genüsslich zu verzehren. Silva, die ihn dabei beobachtete, musste auflachen, kassierte aber augenblicklich einen Tadel von Ihrer Mutter. “Oh, ich bin nicht gekränkt, aber sag mir weswegen du lachen musstest.” sagte Angeli
- “Ach, du nutzt deine Finger für etwas, das deine Zähne besser könnten!" sagte Julea. "Hierzulande stecken wir uns das gesamte Fruchtfleisch in den Mund und machen uns so die Finger nicht schmutzig, verstehst du?"
- “Es ist mein Weg, Jena zu achten und wenn ich die einzelnen Teile des Kaktus entnehme und esse, kann ich sehen wie er gewachsen ist und das Leben dahinter erkennen. So sucht Jena unser Herz und unsere Seele auf, damit wir hinter allem den Wert und die Seele erkennen können.”
- “Wir haben uns hier daran gewöhnt das Herz des Kaktus als Ganzes zu schmecken. Nur die einzelnen Bestandteile zu schmecken würde den Gesamtgeschmack zerstören. Genau so wie jeder Homin verschiedene Arten von Launen kennt, hätte er nur eine Laune würde sich selbst sein bester Freund von ihm abwenden!" gab Abecus gut gelaunt zurück.
- "Erst wenn wir Jenas Schöpfung vollständig Wert zu schätzen vermögen, sind wir in der Lage, der Karavan angebrachte Opfergaben zu bringen."
- "Hah, Jena, Jena, sie ist doch nur ein Hirngespinst!” lachte Abecus.
- “Aber, geehrter Magier,” gab Angeli mit ernstem Gesicht zurück “von wo bekommt Ihr dann Eure magische Kraft?”
- “Nicht von Jenas Geist, das kann ich mit Sicherheit sagen! Nein, sie kommt vom Wissen und Verständnis über die Dinge. Die Betrachtungsweise zu lernen, um eine Wissenschaft aufzubauen. Ich bin mir sicher, dass noch keiner von euch Jena mit eigenen Augen gesehen hat! Findet mal selber heraus, woher sie kommt.”
- “Jena ist in jedem Windhauch der euch berührt, euch umgibt! In jeder Böe die euch trifft. Sie ist das Gefühl und das Leben, das euer Herz schlagen lässt. Sie ist das was wir fühlen, aber nicht sehen können. Nur diese Empfindungen erlauben uns auf ein Leben nach dem Tod auf Atys zu hoffen!" antwortete Angeli.
- "Eine schöne Antwort, Angeli, aber, versteht mich nicht falsch, für Jena ist kein Platz in diesem Haus! Selbst wenn die Matis aus den Wolken steigen würden?”
Abecus Worte wurden plötzlich von einem Mark erschütternden Heulen übertönt.
- “Gibt es Gingos hier?” fragte Angeli erstaunt.
- “Nein, das ist das Heulen des Wüstenwindes. Wenn es sich so anhört bekommen wir hier sehr bald ungemütliches Wetter. Das bedeutet für Euch, dass Ihr noch etwas hier bleiben müsst bis sich die Unwetter ausgetobt haben! Es wird Euch nicht schaden noch etwas mehr über unsere Kultur und unseren Denkweise zu lernen in dieser Zeit. Ich muss nun los, die Einwohner warnen, dass sie ihre Mektoubs diese Nacht herein holen ehe Jena sie als Wind verkleidet mit Gewalt hinweg trägt! Aber bleibt Ihr ruhig, junger Freund, ich werde nicht lange weg sein, Julea wird Euch Gesellschaft leisten. Sie wird einmal in meine Fußstapfen treten und so kann sie ihr Wissen ausbauen.”
Unter dem wachsamen Auge seiner Frau verließ er das Haus und ließ die jungen Novizen zurück. Sie redeten bis spät in die Nacht hinein und stellten die Argumente der jeweils anderen Kultur voller Neugier auf die Probe.
- “Ist es wahr, dass Ihr Euren niederen Kasten verbietet, Lesen und Schreiben zu lernen, um Sie an Eure Gesetze zu binden?” fragte Julea etwas aufmüpfig.
- “Es ist Jenas Gesetz, und die Antwort ist Ja! Man muss erst die unteren Schulen durchlaufen, damit man den Versuchungen der Welt standhalten kann. Nutzloses und unnötiges Wissen ist eine Gefahr für den Geist eines einfachen Homins. Es führt nur zu Schmerz und Unglück und schlussendlich zur Verdammnis im Schlund des Drachen!" gab Angeli zurück.
- "Also predigt Ihr glückselige Unwissenheit?!” mucksierte Julea höflich.
- “Wenn du es so ausdrücken möchtest?”
- “Und was ist mit der Gleichheit aller Homins? Ich nehme an in Jenas Gesetzen gibt es dafür keinen Platz?”
- "Doch, tut es, aber es hängt von jedem Homin selbst ab, es zu lernen. Einen Platz in Jenas Herzen muss man sich erarbeiten, man muss das ganze Leben an sich arbeiten und den Gesetzen treu bleiben. Ansonsten würde es auch reichen, sein Leben als einfacher Teppichverkäufer zu verbringen!"
- "Ihr seid meiner Frage ausgewichen, wie es wohl üblich ist bei Eurer Rasse, Angeli. Aber obwohl ich Eure Ansichten nicht teile, berührt Ihr mit Eurer Treue und Geradlinigkeit mein Herz." sagte Julea anerkennend.
- "Und ich, geehrte Julea, obwohl ich Eure auch nicht teile, muss ich mich vor Eurem scharfen Verstand verbeugen." antwortete Angeli.
So verlief das Gespräch zwischen den beiden weiter und trotz der unterschiedlichen Denkweise zwischen den beiden, war ihnen ihr Gespräch sehr wichtig und sie lernten eine Menge voneinander. Drei Tage lang wütete der herbstliche Wüstensturm und durchnässte das Wüstendelta, welches daraufhin zu neuem und üppigen Leben erwachte. Der Sturm flachte ab und der Matis bereitete sich auf seine Abreise mit einem imperialen Konvoi vor.
Am Abend vor Angeli's Abreise, durch seine Lehren der letzten Tage noch ganz aufgewühlt, saßen die beiden Homins still zusammen in den Dünen und beobachteten das aufblühende Leben im Delta. Durch den Atem beraubenden Sonnenuntergang im Wüstenwind berauscht, drückten sich die beiden eng aneinander. Sie genossen die Stille zusammen, wie nur wahre Freunde es können, ohne dass Worte nötig gewesen wären.
Dritter Teil
In diesem Augenblick wäre Julea ihm überall hin gefolgt. Ob der Weg nun zu Jena oder in den Schlund des Drachens geführt hätte. Das einzige was auf ein Mal für sie zählte, war die Reise gemeinsam mit ihm aufzunehmen. Dann, jenseits all ihrer Hoffnungen drehte sich der junge Matis zu ihr um. Seine schönen Augen glänzten?
- "Julea," sagte er, leise und gefühlvoll, um die Stille sanft zu brechen. "Ich glaube, meine Gefühle für Jena waren nie mit solcher Liebe gefüllt, wie du sie mich gelehrt hast. Ich würde meine Religion für die Macht dieser Gefühle eintauschen?"
- "Still," sagte Julea, machte eine Geste, er solle nicht weiter reden und lächelte dabei ernst. Sie wischte ihm eine Träne von der Wange, berührte seine Augenbraue und strich sanft seine widerspenstige Strähne zurück. Sie kamen sich immer näher und küssten sich schließlich. Ihre Körper waren noch warm von der Wüstensonne, aber der Wüstenwind umschloss sie sanft und so genossen sie die Anwesenheit des jeweils anderen und nahmen den Duft, die Wärme und die Liebe ineinander auf.
- "Ich muss mit deinem Vater reden" sagt Angeli schließlich.
- "Warte, Angeli, die Konsequenzen daraus wären zu ernst um es auf die leichte Schulter zu nehmen! Lass die Nacht unseren Herzen Rat bringen und dann sollen wir sehen, Liebling!"
Juleas Schlaf war beladen mit Träumen über Verstoßung und Verleugnung von ihrem und Angelis Volk, der Verurteilung Jenas zu einer alptraumhaften Reise ins tiefe Innere von Atys, zum großen Drachen. So war sie am Morgen entschlossener denn je, den Weg zu nehmen, der für sie bestimmt war. Doch mit dem Morgen kam ein weiterer Alptraum, ein lebender Alptraum, der der das Antlitz der Welt verändern würde.
Die große Dorfglocke wurde geschlagen und warnte vor einem bevorstehenden Unglück. Yber-Vögel war über die Dünen gesandt worden, um die Nachricht schrecklicher Monster zu überbringen, die für Chaos im Westen sorgten. Der Imperator forderte alle fähigen Homins auf, sich den imperialen Truppen anzuschließen, um die fürchterlichen Horden von Kitins abzuwehren. Die Kinder und untauglichen Homins wurden in den Norden der Region evakuiert, um in der Stadt Piros etwaige Angriffe rebellischer Stämme abzuwehren, die von der Abwesenheit der Soldaten profitieren wollten. Man sagte Angeli, er hätte besser in seine Heimat zurück zu kehren, die Gefahr eines Angriffs durch die rebellischen Stämme sei jetzt gering. Sie hätten bestimmt auch die Nachricht erhalten und hätten jetzt Augen für andere Dinge.
Inmitten der Unruhen fanden die beiden Jungen nur einen kurzen Augenblick der Abgeschiedenheit füreinander, in dem sie sich ein letztes Mal umarmten und sich gegenseitig ein Medaillon mit einer Locke zur Erinnerung schenkten. Angeli schwor, wiederzukommen sobald die Gefahr gebannt sei. Hätte Julea geahnt, was passieren würde, hätte sie ihn nie alleine diese verfluchte Strasse zurücklaufen lassen, auf der nur wenige Stunden später die Kitins einfielen und jeden Homin, dessen Spur sie aufnahmen, bis zum Ende verfolgten?
Julea? Sie überlebte, ja, sie erlebte noch viele Sonnenuntergänge in den Dünen mit dem Wüstenwind. Ja, junger Homin, du vermutest richtig! Es ist tatsächlich eine Locke mit feinem Haar in meinem Medaillon?
— Erzählt von einer alten Fyros-Magierin
Die Chroniken von Atys
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