Aus EnzyklopAtys
Der Kami der verlorenen Seelen – Teil 3
Mithus Xalon runzelte die Stirn. Er dachte nach. Sein Gesicht hatte eine bläuliche Farbe durch den Leuchtwürfel, der das Innere des Zeltes erhellte. In den Augen von Lipsen sah der Chef der Kuilde fast so aus, wie ein Wächter der Karavan – ein Wesen mit einer kontrollierten Macht. Als die junge Trykerin ihm gegenüber saß, konnte sie ihre Angst nur schwer verbergen. Der Fyros beeindruckte sie.
− Dein Plan ist sehr gewagt… und etwas ungewöhnlich. Doch er kann aufgehen. Und es steht zuviel auf dem Spiel, als dass ich mich durch falsch platzierte Vorsicht schuldig machen könne.
Lipsen war mit Stolz erfüllt. Sie würde dem ganzen Stamm zeigen, zu was sie in der Lage war!
− Kommst du alleine zurecht?
fragte Xalon und stand auf.
− Ja. Eine Truppe Krieger hilft mir nicht weiter.
Lipsen stand auf. Sie war zwar kleiner als der Fyros, fühlte sich aber so sicher, dass sie den Eindruck hatte, das Himmelszelt erreichen zu können!
− Daran hatte ich auch nicht gedacht
, antwortete der Chef der Kuilde und öffnete eine gemeißelte Holzkiste. Der Segen der Göttin ist eine Hilfe, die man nicht verweigern kann.
Der Chef der Kuilde reichte der jungen Jägerin einen kleinen Gegenstand. Ein rundlicher Kristall, der so klar wie das Wasser der Seen in Aeden Aquous schimmerte.
− Das ist ein Teleportationspakt. Wenn du den Kristallstein zerbrichst, wirst du an einen sicheren Ort teleportiert.
Lipsen verbeugte sich vor dem Fyros. Sie bedankte sich respektvoll.
− Ich muss die Krieger des Stammes jetzt für den Fall vorbereiten, dass die Gemeinschaft des Ewigen Baumes sich mit den Recyclern gegen uns zusammenschließt. Möge das Licht den gefährlichen Weg erleuchten, den du gewählt hast, Kind Jenas.
Als der Nachmittag verging, kam die Sonne nur schwer hinter den Wolken heraus. Lipsen verließ das Dorf mit einer großen Tasche, in der sie alles hatte, was sie brauchte. Sie musste sich beeilen, wenn sie das verlassene Lager vor Anbruch der Nacht erreichen wollte.
Der Mond herrschte über den Himmel, als der Zorai die ersten Zelte entdeckte. Ein leichter Nebel formte Tropfen auf seiner Tan-Ko-Rüstung – ähnlich einem nächtlichen Tau. Der Recycler betrat das Lager. Er nahm eine Bernsteinvase aus seiner Tasche, die er am Fuße der Opferstellen genommen hatte und ging zögernden Schrittes auf die Jurte zu.
− Geehrter Kami der verlorenen Seelen, ich opfere Dir diesen Gegenstand, damit er gemäß unserer Tradition der Natur wieder gegeben wird.
Er stellte die Vase vor den Zelteingang.Ein paar Minuten verstrichen. Der Homin ging etwas mutiger auf den Vorhang zu, um ihn zur Seite zu ziehen. Plötzlich erschien eine pflanzenähnliche Hand am Eingang, um die Opfergabe an sich zu nehmen. Der Recycler wich zurück und stieß einen Überraschungsschrei aus.
− Mit diesem Opfer die Gunst der Geister du erhältst. Dein Name bekannt ist bei den Kamis, Fa Gai-Guan!
Der Zorai erkannte die eigenartige Stimme des Kamis der verlorenen Seelen. Er kniete und betete mit dem Kopf zur Erde.
− Gelobt seien Ma-Duk und seine Anhänger!
− Du bist gläubig, eine heilige Mission du bist wert zu erfüllen. Wirst du annehmen sie?
Fa Gai-Guan hob den Kopf. Er legte die Hand auf seine Brust und redete deutlich.
− Ja! Ich stehe dir zu Diensten, Oh Wächter von Atys!
− Ein größeres Opfer die gestörten Seelen verlangen. Nur dann werden sie in Frieden sein. Ketzerische Reliquien der Stamm hat. Liangi Do-Vi, der Anführer der Recycler, soll sie vor Dämmerung hierhin bringen. Mein Bote du sein wirst, Fa Gai-Guan! Beeile dich!
Der Homin richtete sich auf und floh wie der Wind nach Nostosten. Er schien wie besessen und nichts hätte ihn aufhalten können.
Lipsen packte die Vase in ihre Tasche. Alles war nach Plan gelaufen. Sie zog ihre Tashok-Handschuhe vorsichtig aus. Die Verkleidung aus Moos und Ästchen hatte den Zorai überzeugt. Ihr blieben ein paar Stunden, um die Verkleidung perfekt zu machen. Die junge Trykerin machte sich voller Freude an die Arbeit.
Es schimmerten noch ein paar Sonnenstrahlen in der Dunkelheit, als die Recycler im Lager erschienen. Sie waren zahlreich gekommen, unter der Führung von Fa Gai-Guan. Inmitten der Krieger marschierte Liangi Do-Vi. Sein kahler Kopf glich einem bedrohlich angemalten Kopf. Er trug einen eindrucksvollen Kanka-Streitkolben. Er war dicht von zwei Homins gefolgt, die jeweils einen geschlossenen Weidenkorb trugen. Die Zorais versammelten sich vor der Jurte. Fa Gai-Guan kniete nieder und ergriff das Wort :
− Dein Wille wurde erfüllt, Oh Kami der verlorenen Seelen. In dieser Nacht steht der mächtige Liangi Do-Vi vor dir, höchster Anführer unseres Stammes. Geheiligt sei sein Name!
Der Leiter der Recycler trat vor.
− Geist der Natur, dürfen wir einen Blick auf dich werfen. So werden unsere Herzen durch deine Anwesenheit erfüllt.
Er sprach ruhig und gelassen. Seine vorsichtige Art stand im Gegensatz zur mystischen Erregung von Fa Gai-Guan. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.
Eine Gestalt trat aus dem Zelt. Die Zorais wichen zurück. Trotz seiner kleinen Größe war der Kami der verlorenen Seelen beeindruckend. Sein moosiger Körper war mit Ästen durchwachsen. Sein Kopf ähnelte jenem eines Fisches aus den waldlichen Ozeanen. Große Farnteile schmückten seinen Rücken wie Waldflügel.
− Weise du warst, meinem Ruf gefolgt zu sein, rief der Kami mit einer schrillen Stimme. Ein Opfer die verlorenen Seelen verlangen! Die Gegenstände unserer Feinde, du hast mitgebracht?
Die zwei Korbtrager setzten ihre wertvolle Ware nieder.
− Hier sind die Reliquien der Kuilde. Ihrem Aussehen nach stammen sie zweifellos von der Karavan.
Die Recycler brachten zwei Metallwürfel hervor, die mit eigentümlichen Schriften geziert waren.
− Diese ketzerischen Objekte der Natur werden zurück erstattet. Durch dieses Opfer werden die Homins, die hier umkamen, ihren langen Weg zur Glückseligkeit des Ma-Duks wieder aufnehmen können!
Es fing an hell zu werden. Der Kami begleitete seine Worte durch geheimnisvolle Zeichen, die nur er verstand.
− Jetzt gehen Ihr müsst. Von den Lebenden die Toten nicht mögen die Anwesenheit. Vom großen Schöpfer seid gesegnet!
Liang Do-Vi legte die Hand auf einen der Würfel.
− Oh Wächter von Atys, wir würden der Opfergabe gerne beiwohnen. Haben wir uns dieses Privileg nicht durch unsere Gabe verdient?
Der Kami schien überrascht. Für wen hielten diese Homins sich, um ihm zu widersprechen?
Lipsen schwitzte unter ihrem pflanzlichen Helm. Sie musste sich aus dieser Situation lösen. Sie versuchte es mit Einschüchterung :
− Ihr werdet für Eure Tat belohnt werden. Doch nur mit mir allein das Opfer kann gebracht werden. So wollen es die Geister dieses Ortes!
Die Recycler schauten sich beunruhigt an. Doch ihr Leiter gab nicht nach.
− Wir haben dem Großen Schöpfer stets treu gedient. Wir haben es verdient, dabei zu sein. Wir fürchten weder Lebende noch Tote!
Der Kami blieb still. Er schien nachzudenken.
− Treue Diener ihr seid, antwortete er. Ich werde euch diesen Gefallen machen. Tretet zurück, Homins! schrie er und breitete die Arme aus.
Die Zorai taten ein paar Schritte zurück. Der Kami näherte sich den Würfeln und murmelte etwas Unverständliches. In seiner rechten Hand schimmerten kristallartige Partikel in Regenbogenfarben.
Liangi Do-Vi zuckte zusammen. Er hatte schon ähnliche Strahlen gesehen und zwar in den Händen von Karavananhängern. Er stürzte sich instinktiv auf die Reliquien. Zu spät ! Der Kami der verlorenen Seelen hielt die heiligen Objekte fest in den Händen und verschwand mit einem Lachen, das so klar war, wie der Morgen der anbrach.
Lipsen Be’Laury wurde Ende Herbst eingeladen, der Kuilde beizutreten. Sie wurde die größte Jägerin des Stammes. Sie streift jetzt im Norden der Wälder des Nexus und lauert wilden Tieren auf, um ihren Stamm zu ernähren. Sie vermeidet den Süden und ist nie mehr in ihr verlassenes Lager zurückgekehrt. Vielleicht aus Angst, dem richtigen Kami der verlorenen Seelen zu begegnensich, um ihm zu widersprechen?…
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