Das Herzogskind

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Das Herzogskind

von Alarak van Kred veröffentlicht im Neuen Blatt von Atys am Prima, Fallenor 25, 2. CA 2524.[1]


Diese Chronik beschreibt die Kindheit von Sokkar I. Aniro, und man muß die Wahrheit in den geschickten Wendungen des Chronisten erkennen, der wie jeder Diener dazu neigt, seinen Herrn zu einer legendären Figur zu machen. Einige Sokkarie-Gelehrte haben zwar "fragwürdige" Fakten in den Texten entdeckt, sind aber der Meinung, daß es sich dabei um Metaphern handelt und die Wahrheit nicht in Frage gestellt wird.


I.II Das "Herzogskind"

"Am Tag der Großen Prozession des Jahres 2482, am Ende jenes Jahrhunderts, das so viel tiefes Leid über Atys gebracht, das Gewissen des Einzelnen so sehr geschädigt und die Ländereien des Herzogtums durch die Invasion der Kitins verwüstet hatte, feierte die Dynastie von Sokkarie ein glückliches Ereignis, eine durchscheinende Hoffnung auf neue Zeiten: die Geburt des Sohnes von Herzog Aarokyr und Herzogin Tania. Es waren kaum drei Monate vergangen, als die Legionen der Kitin die letzten Vorposten Sokkarias besiegten, und am Hof herrschte große Aufregung. Man bereitete sich auf das Exil vor. Die Herzogin und ihre Kinder waren mit dem ersten Transport unterwegs, begleitet von den Marquis und Kanzler Hebert von Chanlend. Der Herzog weigerte sich, sein Land zu verlassen und bereitete sich auf seinen letzten Kampf vor, umgeben von seiner Leibgarde. Er wurde mit dem Schwert in der Hand aus dem Leben gerissen.

Die Herzogin, vom Tod ihres Mannes betrübt und durch die Verbannung gedemütigt, erreichte die Wildnis, in der die Sokkarianer die Führung übernahmen, nicht. Sie starb qualvoll und übertrug die Regentschaft dem Kanzler Hebert. Gemäß der Tradition wurde der junge Sokkar zum Herzog gekrönt. Das war eine schwere Bürde für den Kopf eines Kindes.

Um dieses Kind ohne Eltern, ohne Unterstützung durch entfernte Cousins, als Gefangener und Mündel eines Regenten, der ihn zur Befriedigung seines Herrschaftsanspruchs benutzen wollte, entfesselten sich alle Begehrlichkeiten, alle Ambitionen wurden entlarvt.

Das feine Gesicht, das unter den schweren, mit Edelsteinen und antiken Kameen gehöckerten Diademen so zart war, trug bald die spezifischen Züge seiner Vorfahren und garantierte ihm bald Respekt und Furcht. Der kleine Herzog hat zu früh die Begehrlichkeiten der minderjährigen Klassen kennengelernt, die nach einem leichten Zugang zur Macht gieren. Er weiß - oder er ahnt -, daß er für alle um ihn herum eine Beute ist; und jeder hofft, daß er eine leichte Beute sein wird.

Um ihn herum tummeln sich liebenswürdige, anzügliche und in Intrigen geschickte Grafen, Barone mit rauen Griffen und maßlosen Ambitionen, unterwürfige Höflinge oder arrogante Dienstboten. Eine ganze Welt, für die er ein Mittel, nicht ein Zweck ist und die sich ihm nur nähert, um durch ihn das gewünschte Ziel zu erreichen, sei es durch den Geschmack der Macht, der Dappers oder des Vergnügens. Der Schutz der Elitegarde der Prätorianerarmee bewahrt ihn davor, zum Opfer seiner unfolgsamen Minister, seiner heuchlerischen und fälschlichen Vasallen zu werden, unter denen der Regent selbst der gefürchtetste ist.

"Das Herzogskind", so wird er von seinen Feinden mit Spott und Verachtung, von seinen Anhängern mit einer Nuance von Zärtlichkeit, Respekt und Loyalität bezeichnet. Ein Kind, das im Alter der reinsten und süßesten Unbeschwertheit bereits den langsamen und komplizierten Verlauf der politischen Kombinationen ahnte, in die ihn jeder zu seinem Vorteil zu verstricken versuchte. Welche Illusionen hatte er noch? Welche kindlichen Spiele würden zu diesem Kind passen, das ohne Liebe erzogen wurde, in einer Mischung aus protokollarischer Strenge und Ungewissheit über die Zukunft der Dynastie. Der kindliche Herzog wird bei seiner Volljährigkeit ein absoluter Monarch sein, aber die, die ihn führen, hüten sich davor, ihm die Autorität zu überlassen. Er steht im Mittelpunkt dieses dichten Geflechts aus Ambitionen, Rivalitäten, Hass, Groll und Ängsten. Schon das Herzogskind weiß, daß er sich mit aller Kraft verteidigen und meist als Erster angreifen muß, bevor die anderen ihn angreifen können.

Trotz dieser halben Knechtschaft, die durch den Prunk der herzoglichen Majestät verdeckt wird, und obwohl er bald nichts mehr von den Schandtaten des Regenten weiß, zeigt das nunmehr zwölfjährige Kind eine bemerkenswerte Persönlichkeit und Fähigkeiten. Für ihn sind alle Spiele im Vergleich zum großen Spiel der Macht, in dem sich sein herzoglicher Lebenssaft entfaltet, fade und langweilig. Alle Träume sind kleinlich, wenn sie nicht den Wunsch nach Macht, den Traum von Herrschaft, die Souveränität zurückeroberter Ländereien, die dem alleinigen Willen des Matis-Volkes unterworfen sind, zum Gegenstand haben, zum Kern haben.

Da es ihm nicht gelang, seine Herrschaft über den jungen Herzog zu sichern, trotz seiner Kühnheit, seiner Arroganz, seiner Verleumdungen und seiner Grausamkeit, hegte der Regent Hebert mit seinen Anhängern, deren Reihen sich mit dem Heranwachsen des Kindes immer mehr lichteten, den Plan, seine Autorität am Hof mit Waffengewalt zu erzwingen. Der Herzog war zu diesem Zeitpunkt bereits 17 Jahre alt. Als er an einem tristen Tag im Jahr 2499 die bewaffneten Gentlemen in sein Quartier eintreten sah, hätte man um die Zukunft der sokkarischen Dynastie fürchten können. Doch der Jugendliche überraschte die Eindringlinge mit einem ironischen Lächeln, denn die Verschwörer hatten sich soeben in aller Öffentlichkeit geoutet. Schwere Vorhänge fielen und gaben den Weg frei für die Elite der Prätorianergarde, eine der treuesten unter den Getreuen. Als die Rebellen zu fliehen versuchten, weil ihre Feigheit sie einen fairen Kampf ablehnen ließ, schlossen sich die Tore des Palastes vor ihnen. Der Legende nach schlitzte der Herzog dem verräterischen Regenten selbst die Kehle auf, seine Anhänger hingegen wurden in die tiefen Matis-Wälder getrieben und ausnahmslos durch das Schwert gejagt.

Von nun an sollte Herzog Sokkar I. Aniro allein regieren, umgeben von den loyal gebliebenen Adligen [...]".


Dieser Text ist nur für die Sokkarianer bindend, es handelt sich um einen legendären und inoffiziellen Text von Nevrax.



  1. Prima, Fallenor 25, 2. CA 2524 ist Montag, der 9. August 2004.

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