Aus EnzyklopAtys
Die letzte Bearbeitung war von Dorothée am 3.09.2020.
Der Kami der verlorenen Seelen – Teil 1
Der Regen nahm noch zu und Blitze erhellten den abendlichen Himmel. Lipsen lief zum nächsten Zelt, um sich unter zu stellen. Sie schob den schweren Ledervorhang beiseite, der als Tür diente. Wie erwartet, war das Zelt bis auf einen kleinen Feuerherd leer. Die Bewohner hatten den Ort schon seit langem verlassen. Das verlassene Lager glich einem Geisterdorf. Die junge Trykerin zitterte. Sie stellte ihr Boomer-Gewehr und ihren Jagdsack an einer der Holzsäulen ab und putzte schnell den Herd, um ein gutes Feuer zu machen. Eine beruhigende Wärme machte sich im Jurtenzelt breit. Lipsen zog ihre Tashok-Rüstung aus und entspannte sich. Sie dankte der Göttin im Stillen für diese Unterkunft. Draußen grollte das Gewitter wie eine Kriegslawine. Die durch die schwachen Flammen erzeugten Schatten schienen nach dem Rhythmus des Regens zu tanzen, der auf das Zelt drosch als sei er wütend, nicht eindringen zu können. Lipsen nahm ein Stück getrockneten Fisch aus ihrem Sack und kaute gedankenverloren darauf herum. Ihr goldiger Blick verlor sich in der Leere, während sie über den Grund ihrer Anwesenheit im Wald von Nexus nachdachte.
Lipsen Be’Laury hatte viele Gefahren auf sich genommen, um den Anführer der Kuilde zu treffen. Die Wächter der Gilde waren überrascht, eine junge Tryker-Jägerin kommen zu sehen, die einen toten Torbak zu ihrem Lager brachte. Ein Geschenk für Mithus Xalon, hatte sie stolz verkündet. Sie wollte der Kuilde beitreten, um der Göttin Jena und ihren Jüngern der Karavan zu dienen. Die Wächter hatten über den Hochmut dieser kleinen Hominin gelacht. Für wen hielt sie sich? Mitglied des Stammes zu werden war eine Ehre, ein Privileg, in dessen Genuss nur ein paar Auserwählte kamen. Doch Hiang Sai-Ju, der Empfänger, war vorgetreten und hatte Lipsen willkommen geheißen. Alle Homins, die der Göttin dienen wollten, verdienten einen freundlichen Empfang. Er schlug vor, den Torbak dem Vierteiler des Stammes zu überlassen und die junge Frau zum Zelt des Anführers zu begleiten.
Lipsen folgte Hiang Sai-Ju im Schatten des Metallschiffs, das über das Lager flog. Die grünen Strahlen eines Karavansignals leuchteten in der Umgebung. Man spürte eine gewisse Aufregung im Dorf. Hiang Sai-Ju erklärte, die Kuilde führe Krieg gegen den Stamm der Recycler, Anhänger der Kamis. Sie hatten das Lager vorige Nacht angegriffen und wertvolle heilige Objekte an sich genommen. Wahrscheinlich wollten sie diese zerstören, als Opfergabe an ihre dämonischen Meister. Diese Objekte mussten unbedingt zurück erobert werden.
Schließlich stand Lipsen vor Mithus Xalon. Der Anführer der Kuilde war ein großer Fyros mit ruhigen Zügen. Er begutachtete die junge Trykerin von Kopf bis Fuß und Lipsen spürte, wie sie bis zu ihrem blonden Haaransatz rot anlief.
Du willst also der Kuilde beitreten? Aus welchen Gründen?
Ihr Stamm versammelt die mächtigsten Agenten der Karavan. Ihr Glaube in die Karavan ist unerschütterlich. Mein Großvater war einer von Euch, als ihr Einfluss in allen alten Landen ausgeübt habt. Wie viele andere starb er während des Großen Schwarms in den Klauen der Kitin. Ich will den Spuren meiner Vergangenheit folgen und meinem Ahnen meine Ehre erweisen. Ich will der Göttin dienen.
Was kannst du für den Stamm tun? Du scheinst mir sehr jung.
Ich bin eine erfahrene Jägerin trotz meines jungen Alters. Ich spüre allerhand Wild auf – von friedlichen Armas bis zu feindlichen Bodocs. Ich jage Raubtiere. Ich kann die Laute zahlreicher Tiere nachahmen und beherrsche die Kunst der Tarnung. Ich werde für den Stamm jagen. Ich bekämpfe seine Feinde.
Du scheinst ja mutig und entschlossen zu sein. Doch das sind nur Worte. Du musst dein Können beweisen, Lipsen Be’Laury.
Ich bin bereit, was soll ich tun?
Du wirst während einer Jahreszeit in den Wäldern von Nexus leben. Wenn du eine Jägerin bist, wird die Natur dir geben was du brauchst. Du wirst nicht bei uns schlafen, doch du wirst im Dienste der Kuilde stehen. Hiang Sai-Ju wird dir Missionen anvertrauen. Erfülle diese Missionen und ich werde über deine Beitritt in unsere Gilde nachdenken. Folge dem Weg des Lichts, um der Göttin würdig zu sein.
Lipsen zog ein enttäuschtes Gesicht, das sie schnell versteckte, indem sie sich vor Mithus Xalon verbeugte. Eine ganze Jahreszeit musste sie warten!
Ich werde Ihrem Wunsch nachkommen. Und ich werde Ihnen beweisen, dass ich eine von Euch bin.
Seitdem waren ein paar Wochen vergangen. Lipsen hatte zahlreiche Missionen für Hiang Sai-Ju durchgeführt. Sie hatte den ganzen Norden der Region erkundet und hatte ihnen Arma, Yelk und sogar Bolobifleisch besorgt. Sie musste sich gegen Cuttler verteidigen, Fleischfresser deren gestreiftes Fell nicht im Farn zu erkennen war. Sie war Banditen und Gibbais aus dem Weg gegangen, die im Wald umher streiften. Nexus war eine gefährliche Gegend für unvorsichtige Reisende.
Sie hatte im Freien übernachtet und von der Milde des Herbstanfangs profitiert. Lipsen fürchtete sich nicht vor der Einsamkeit, genoss jedoch ihre kurzen Aufenthalte im Lager der Kuilde, wenn sie ihre Beute ablieferte. Hiang berichtete ihr dann von den neuesten Ereignissen. Es war dem Stamm noch nicht gelungen, die gestohlenen Reliquien zurück zu erobern und das trotz mehrer Versuche. Ziel der Recycler war es, den Nexus vom Einfluss der Kuilde zu „reinigen“ – im Namen der Kami und ihrem Meister Ma-Duk. Diese Fanatiker hatten eine große Zeremonie für das Ende des Herbstes angekündigt, und ihren Feinden somit die Herausforderung gestellt, sie davon abzuhalten, die heiligen Gegenstände zu opfern. Lipson war entsetzt. Sie konnte nicht verstehen, wie diese Homins den Kamis Treue schwören konnten. Die Dämonen der Natur waren schlechte Wesen, beunruhigend, die skrupellos alle überfleißigen Rohstoffabbauer töteten. Sie war einem dieser Geister in der Gegend von Fairhaven begegnet. Die hornige Kreatur hatte versucht, sie mit ihrem Gespräch zu verführen, doch die junge Trykerin war nicht darauf herein gefallen. Lipsen hatte sich über den Kami lustig gemacht und seine sanfte Stimme und seine lächerliche Haltung nachgeahmt. Der Dämon hatte nicht reagiert und hatte weiter meditiert. Solche labilen Wesen konnten nicht behaupten, das Schicksal der Homins zu leiten.
Lipsen hatte mit der Erkundung des südlichen Nexus begonnen, als das Wetter anfing schlechter zu werden. Auf erste Schauer folgten schnell starke Gewitter und die junge Trykern wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Initiierung abzuschließen, um in einem trockenen Zelt der Kuilde unter zu kommen. Dann entdeckte sie das verlassene Lager. Jena hatte wohl Mitleid mit ihr gehabt und eine Unterkunft für sie aufgeschlagen.
Die junge Trykerin nieste so laut, dass die Flammen im Herd aufloderten. Na also, das fehlt mir gerade noch, krank zu werden. Sie durfte nicht aufgeben. Der Regen schlug noch immer auf die ledernen Zeltwände der Jurte. Lipsen fragte sich, wer hier ein Lager errichtet hatte. Kundschafter, Banditen, Schmuggler? Weshalb waren sie geflohen? Vielleicht wegen der Kitins, die immer sehr aktiv in der Region waren… Lipsen beschäftigte sich einige Augenblicke mit diesen Fragen. Dann überkam sie die Müdigkeit und sie unterdrückte ein Gähnen. Das Gewitter schien sich zu entfernen. Erschöpft legte Lipsen sich auf den Sandboden und schloss die Augen. Sie hatte sich ein bisschen Ruhe verdient. Ein paar Minuten später schlief sie. Kein tiefer Schlaf, aber ein erholsamer.
Plötzlich wachte sie auf. Das Feuer war aus. Es hatte aufgehört zu regnen und sie hörte Stimmen. Sie erkannte die gehackte Mundart der Zorai. Sie unterdrückte ein Niesen, schlich sich zum Zelteingang und öffnete vorsichtig den Vorhang. Eine Gruppe Zorais saß um ein Lagerfeuer. Von den Flammen erleuchtet, sahen sie Spektren ähnlich mit ihren bleichen Masken und den weißen Weidenrüstungen. Sie trugen purpurrote Stiefel. Lipsen hielt den Atem an. Sie hatte die Farben der Recycler erkannt!
Fortsetzung folgt…
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