Die Mauer Lenardis

Die Erschütterungen ließen den Matis vollends in die Gegenwart zurückkehren. Er fiel auf die Knie, das Gesicht zum frisch umgegrabenen Boden gewandt. Nur wenige seiner Kollegen schenkten ihm Aufmerksamkeit, sie waren abgelenkt durch die Arbeit.
Nur einige der Neuen, jene, deren Augen noch Glanz hatten, wollten ihn stützen. Der Schichtwechsel auf der Baustelle war fast wie eine Art Ritual, eine Gegenüberstellung, auf deren Höhepunkt immer dasselbe stand: der Blick in die Augen. Frischer Glanz in den einen, stumpfe Erschöpfung in den anderen…

Yasson beugte sich etwas über die Mauer aus Papier, Modell des ehrgeizigsten Matis-Projektes seit dem Großen Zikkurat.

“Hmm… Ser Lenardi? Was macht der Yubo da oben auf der Mauer?”
“Oh, der Yubo ist dort, um den Maßstab zu demonstrieren, na Karan…” sagte Bravichi und der Gedanke an seine junge Tochter, die er gestern einen Augenblick mit dem Modell alleine gelassen hatte, ließ ein kaum erkennbares Lächeln über seine Züge huschen.
“Ich verstehe… Ihr hättet keinen Matis dafür nehmen können?”
“Doch, aber ich wollte… hmm… wie soll ich es sagen… die Größe des Reiches darstellen, na Karan, und würde es nie wagen, einen Matis klein erscheinen zu lassen…”

Der König hob seinen Blick zu Bravichi, der in jeder Situation ein Beispiel an Selbstbeherrschung abgab. Yasson sagte, seinen Blick erneut mit einem Lächeln über das Modell schweifen lassend:
“Lenardi, das ist großartig, ich weiß schon jetzt, dass mein Sohn diesen Detailreichtum lieben wird, und damit ist er anscheinend nicht alleine… Gut, setzt die Arbeit fort. Und wenn den jungen Knospen genug Liebe angedeiht, werden die Alineae bald so manches Gedicht mit Zauber füllen.”*
“Ja mein Herr.”

Es war ein gewöhnlicher Herbstmorgen an der Schwelle zum Winter. Die Baustelle schlief noch und hob sich kaum aus den Nebeln, die sie als ein vergänglicher Schutzmantel einhüllten, hier und dort durchbohrt von filigranen, verzierten Säulen, die Gewölbe trugen, Symbole der Wissenschaft, die den letzten Protest der durch das Genie der Matis gezähmten Natur zum Schweigen brachten.

Bravichi Lenardi betrachtete sein wachsendes Werk. Er war ein überlegener Architekt, dem Höhepunkt eines Lebenswerkes entgegenstrebend. Er arbeitete meist alleine, schon während beinahe zweier Jahren Jenas vermaß er die unbekannten Regionen des neuen Königreichs, als Kartograf und Botaniker gleichermaßen. Er war wie ein Quell unglaublicher Entdeckungen, ein großer Wegbereiter der Matis in diesen jungfräulichen Gebieten.

Er war es, der besonders dafür gesorgt hatte, dass die Beschwerlichkeiten das Matis-Exil in der Zuflucht in den Urwurzeln - und damit auch das der anderen Völker - so gut wie möglich abgemildert wurden, ohne Unterlass versuchte er, die Umwelt auf der Suche nach der Perfektion sogar in den geringsten seiner Werke anzupassen, und seien es die banalsten Objekte des Alltags. Er war zu den größten lebenden Architekten geworden, ein Symbol der Rafinesse, des künstlerischen und wissenschaftlichen Feinsinns der Matis.

Aber um den großen Pflanzenwall zu vollenden brauchte er Arbeitskräfte. Er hatte viele rekrutieren können, einfache Gärtner oder erfahrene Botaniker. So viele Bäume, Sträucher, Stecklinge, doch mit einer gemeinsamen Wurzel: der Kultur und dem Glauben der Matis. Doch manche waren noch nicht bereit…

Sie waren erschöpft, aber sie erfüllten ihre Aufgabe, geleitet vom Lichte Jena, vom Stolz, von der Ehre oder von Psychodrogen. Sie taten es für die Ihrigen, um sie für immer vor den Schrecken zu schützen, die sie durchlitten hatten.

Aber die Bedrohung war nahe und der Abschlusstermin noch näher. Die Zeit eilte dahin, die Arbeiter gruben die Furchen, die die Samen des Lebens aufnehmen sollten wie die Knospen ihres baldigen Todes. In zunehmender Erschöpfung formten sie die Zukunft und die Landschaft.

Bravichi Lenardi betrachtete die Fundamente der Baustelle. Es war für ihn der Gipfel seines Wissens. Alles lächelte ihm zu, auch das Vertrauen von König Yasson. Bravich selbst hatte nur eine Tochter, aber er würde bald einen Prinz in der Ausbildung haben, sein Lehrer sein. Ein Meisterwerk im Entstehen, die Erfüllung seines Lebens…

“Meister Lenardi?
- Wir haben die Pflanzungen abgeschlossen, Ruhm sei Jena und eurem Wissen, die Konstruktion ist stabil und wächst schnell…”
Lenardi Bravichi antwortete nicht sofort.

Er hatte einen Yubo bemerkt, der sich tapfer auf eine der Träger-Wurzeln der Mauer gewagt hatte. Das Tier hatte gezögert, denn die Mauer war noch wenig stark.
Der Große Architekt des Lebens antwortete ruhig:
“Gut, fahrt mit dem Programm fort, die Pflanzen müssen vor dem Winter noch an Stärke gewinnen.”
Der Yubo war gestürzt, er verschwand im Nebel. Der Schrei des Tieres weckte die erwachende Baustelle vollends und die Arbeiter fanden seinen Leichnam aufgespießt auf einer Tochterwurzel an der Mauerbasis. Sie fuhren mit ihrer gewöhnlichen Arbeit fort…
Ein Jahr später, an der Schwelle des Tages zu den Dankfeiern zur Wintersonnenwende, untergruben die Kamis die Mauer.

Dieses Fragment wurde in der Königlichen Akademie im jahre 2554 gefunden. Der Dank der Akademie galt Filira Lylanea Vicciona und Sasura

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